Über Jahrzehnte galt zumindest in Europa und in Nordamerika die Demokratie nicht nur als die beste verfügbare, sondern als die einzig denkbare Staatsform. Neue Entwicklungen und Phänomene wie zum Beispiel die sozialen Medien oder ein weltweit erstarkter Populismus stellen die Demokratie vor enorme Herausforderungen. Schon vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurde von immer mehr Intellektuellen diesseits und jenseits des Atlantiks die Frage gestellt, ob wir uns nicht an einem Wendepunkt zurück in dunkle Zeiten befinden, in denen die Massen den autoritären Verführungen populistischer Ideologen erliegen. Die Flüchtlingskrise, der politische Islam, Terrorismus sowie die Finanz- und Wirtschaftskrise haben ihre Spuren hinterlassen.
Der aktuelle Russland-Ukraine-Konflikt beweist, wie wichtig demokratische Beziehungen zwischen Nationen sind. Schon vor zehn Jahren hat der Politikwissenschaftler Dani Rodrik ein von ihm so tituliertes „Globalisierungstrilemma“ festgestellt. Demnach könnten Staaten in der globalisierten Konstellation nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Souveränität und wirtschaftliche Integration optimieren – eines gehe immer nur auf Kosten des anderen. Es gelte also jeweils im konkreten Fall zu entscheiden, wo in diesem Zielkonflikt die Prioritäten gesetzt werden sollten, der Brexit war ein negatives Beispiel dafür.
Der aktuelle Befund scheint eindeutig zu sein: Die Demokratie befindet sich global auf dem Rückzug. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Corona-Pandemie, die den Vormarsch autoritärer Führungen weiter beschleunigte. So wird laut Bertelsmann Transformationsindex 2022 heute erstmals eine Mehrheit der Entwicklungs- und Schwellenländer nicht mehr demokratisch regiert. Die durch das Coronavirus verursachten politischen Schäden sind dort erheblich, wo es bereits zuvor autoritäre Tendenzen gegeben hat. Die Eindämmung der Viruserkrankung durch Lockdowns, Versammlungsverbote, Informationskontrollen oder Notstandsermächtigungen lieferten einen willkommenen Vorwand zur weiteren Beschneidung von Freiheitsrechten und für eine Machtballung in der Exekutive. Unter 137 Entwicklungs- und Schwellenländern stehen heute 70 Autokratien nur mehr 67 Demokratien gegenüber, und alle Kernindikatoren der Demokratiequalität – politische und bürgerliche Rechte, Gewaltenteilung usw. – zeigen nach unten.
Selbst in Österreich hat die Corona-Pandemie der positiven Einstellung der Bevölkerung zur Demokratie einen Dämpfer verliehen. Im Sommer 2021 sahen nur noch 69 Prozent der Befragten im „Demokratie-Radar“ der Universitäten Graz und Krems diese gut oder sehr gut funktionieren; zu Pandemiebeginn war der Wert noch bei 78 Prozent gelegen. Noch deutlicher reduzierte sich die Zufriedenheit der Österreicher mit dem Zustand der Demokratie: Laut Eurobarometer-Umfrage von November und Dezember 2021 ging der Anteil der Österreicher, die mit der Arbeitsweise der heimischen Demokratie zufrieden waren, innerhalb eines Jahres um 19 Prozentpunkte auf nur mehr 56 Prozent zurück. Auch was die Bewertung der innenpolitischen Mitsprache anbelangt, hat Österreich im Vorjahr stark abgebaut: Nur 65 Prozent der Befragten – und somit 13 Prozentpunkte weniger als noch im Dezember 2020 – stimmten hierzulande der These zu, dass ihre Stimme zähle.
Aber wohin entwickelt sich die Demokratie? Kein Regierungssystem ist perfekt – auch die Demokratie hat ihre Makel und stößt bei einigen strittigen Fragen an ihre Grenzen. Das reicht von der Ausgestaltung des Wahlrechts über die Tendenz zur Benachteiligung späterer Generationen bis hin zu den Gefahren eines Umsturzes in Krisenzeiten. Wie die Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrem Werk „Warum Nationen scheitern“ („Why Nations Fail“) feststellen, ist es gerade der demokratische Pluralismus, der Nationen prosperieren und staatlichen Wohlstand entstehen lässt. Die zentrale These der Autoren ist, dass wirtschaftlicher Erfolg in erster Linie von inklusiven wirtschaftlichen und politischen Institutionen abhängt. Empirische Belege stützen diese These: Nur ein funktionierender demokratischer und pluralistischer Rechtsstaat sei in der Lage, Ideen und Talente, die in der Bevölkerung gleichmäßig verteilt seien, voll auszuschöpfen. In extraktiven Systemen – in Autokratien bzw. oligarchischen Herrschaftsformen, in denen sich eine kleine Zahl von Menschen über die Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht bereichert – besäßen die meisten Menschen keine Anreize, sich wirtschaftlich zu engagieren. Die „inklusive Institution“ beschreibt die Demokratie als einzige Herrschaftsform und als Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand. In einer sich als Bürgergesellschaft verstehenden Demokratie, die nicht de facto durch stabile Eliten beherrscht wird, gestattet der politische Rahmen einer großen Zahl von Menschen die Entfaltung wirtschaftlicher Initiative, indem die Demokratie den Rechtsrahmen für Marktwirtschaft und Wettbewerb schafft, die ihrerseits Innovation und wirtschaftlichen Wandel ermöglicht.
Wie man daher die Demokratie in Zukunft gestalten muss und soll, untersuchte die Industriellenvereinigung im Zuge ihres gesellschaftspolitischen Diskurses „Übermorgen“. Dabei trat eines klar zutage: Demokratie müsse von allen Bürgern gut verstanden werden, dazu brauche es eine starke und kontinuierliche Förderung demokratischer Bildung und Kultur und anerkannte und verlässliche Institutionen. Denn in Demokratien würden nicht automatisch Demokraten geboren; zur Stärkung der Demokratie brauche es bessere politische und ökonomische Bildung in Schulen, aber auch für Erwachsene. Als Negativbeispiel diesbezüglich können zuletzt die reflexartigen Reaktionen mancher sozialpartnerschaftlicher Institutionen auf die Initiative von Finanzminister Brunner, die Behaltefrist von Aktien wieder einzuführen, eingestuft werden. Aktien als Privileg der Reichen einzustufen, ist das Gegenteil von inklusiver ökonomischer Bildung. Darüber hinaus sei auch ein spürbares Mitgestaltungsrecht eines der wichtigsten Instrumente, um junge Menschen für demokratische Prozesse zu begeistern. Und um die Demokratie weiterzuentwickeln, brauche es vor allem umfassende Transparenz und nie endende Nachdenkprozesse über den besten Weg.