„Schon zum Jahreswechsel zeichnete sich ab, dass 2022 ein Jahr der Superlative werden würde. Die Inflation weist die höchste Dynamik seit rund vierzig Jahren auf, zugleich würde aber auch das BIP-Wachstum in einer Zwei-Jahres-Betrachtung so kräftig ausfallen wie seit knapp einem halben Jahrhundert nicht mehr. Vor dem Hintergrund der jüngsten geopolitischen Entwicklungen, vor allem der russischen Invasion in der Ukraine, wird das Jahr 2022 jedoch zugleich eine ökonomische Zeitenwende markieren, in deren Zentrum die Industrie als hauptbetroffener Sektor und zugleich treibende Kraft der Transformation steht“, steckte Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), am heutigen Montag in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit IV-Chefökonom Christian Helmenstein die Rahmenbedingungen der aktuellen konjunkturellen Situation ab.
„Konjunkturell liegt ein sehr schwieriges Jahr vor der österreichischen Industrie, während wir einen weitreichenden Umbau industrieller Lieferketten bei wesentlich verstärkten Anstrengungen zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit bei Rohstoffen und Energie sehen werden. All dies geht mit einer beschleunigten Dekarbonisierung unserer Wirtschaft Hand in Hand. Von einer beginnenden De-Globalisierung kann jedoch keine Rede sein,“ so Neumayer. „Seit der Jahrtausendwende agiert die Industrie in einer Welt des multipolaren Wachstums, die nicht verschwinden wird. Immer mehr Länder, allen voran China und Indien, haben die Chancen der globalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit erkannt und werden bestrebt sein, sie zu nutzen. Die Industrie wird alles daransetzen, am globalen Wachstum auch weiterhin durch Offenheit und Innovationskraft zu partizipieren. Allerdings setzt dies Rahmenbedingungen voraus, die ein erfolgreiches Agieren der Industrie an heimischen Standorten auch tatsächlich ermöglichen.“
Die Preisentwicklung bei der Energie sowie bei Rohstoffen belasten die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen massiv. „Wir müssen dringend gegensteuern und den Unternehmen Luft zum Atmen verschaffen. Das in Europa bestens bewährte und punktgenaue Instrument der Strompreiskompensation muss nun rasch umgesetzt werden“, erklärte Neumayer. Vor dem Hintergrund der hohen Inflation plädiert die Industrie „einerseits für Entlastungspakete, die kostendämpfend wirken und andererseits für Maßnahmen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie stärken“. Um die Preisstabilität zu erhöhen, brauche es einen richtig angelegten Entlastungskurs. Daher unterstützt die Industrie die von Finanzminister Brunner angeregte Diskussion über die Abschaffung der kalten Progression. „Gerade in der aktuellen Krisensituation wäre das nicht nur eine Frage der Fairness für die arbeitenden Menschen, sondern die richtige Maßnahme zur richtigen Zeit, um die Kaufkraft der Menschen nachhaltig zu stärken“, so Neumayer, der sich insgesamt für eine Entlastung des Faktors Arbeit aussprach. In diesem Sinne müssten auch Potenziale zur Senkung der Lohnnebenkosten genutzt werden.
Das IV-Konjunkturbarometer, welches als (gewichteter) Mittelwert aus den Beurteilungen der gegenwärtigen Geschäftslage und der Geschäftslage in sechs Monaten bestimmt wird, verzeichnet vor dem Hintergrund der erheblich verdüsterten Konjunkturaussichten eine Halbierung von 40,1 auf 19,4 Punkte. Dieser Einbruch ist nahezu ausschließlich auf die Teilkomponente der Geschäftsaussichten in sechs Monaten zurückzuführen, welche im Zuge eines Vorzeichenwechsels von plus 18 auf minus 21 Punkte abstürzen. Nur noch jedes neunte Industrieunternehmen erwartet im kommenden Halbjahr einen günstigen Geschäftsverlauf, jedes dritte hingegen eine zum Teil erhebliche Verschlechterung. Demgegenüber schätzen zwei von drei Unternehmen die aktuelle Geschäftslage noch als gut ein, deren Saldo sich lediglich geringfügig von 62 auf 60 Punkte zurückbildet. Damit neigt sich die Phase der von einer kräftigen industriellen Expansion getragenen Konjunkturerholung in Österreich ihrem Ende zu. „Ohne diese Teilkomponente wäre das IV-Konjunkturbarometer schon zu diesem Termin auf ein Niveau zurückgefallen, welches eine stagnative Entwicklung erwarten ließe. Selbst wenn eine Unterbrechung der Erdgaslieferungen aus Russland nach Mittel- und Westeuropa nicht eintritt, setzt sich die gesamtwirtschaftliche Erholung in den kommenden Quartalen nur mehr in dem Umfang fort, als von den Dienstleistungsbranchen, allen voran der Tourismuswirtschaft, konjunkturelle Impulse ausgehen. Nachdem solche während der zurückliegenden zweijährigen Durststrecke weitgehend ausgeblieben sind, weisen die betreffenden Branchen nach Überwindung der derzeit vorherrschenden Omikron-Welle auch ein entsprechendes Aufholpotenzial auf“, erklärte Helmenstein.
Von den bei einem Saldo von +71 nach zuvor +70 Punkten nach wie vor auf einem hohen Niveau liegenden Gesamtauftragsbeständen in der Industrie geht während der kommenden Monate noch eine produktionsverstetigende Wirkung aus, allerdings deutet sich bei der Komponente der Auslandsaufträge, welche sich um fünf Punkte auf einen Wert von +62 Punkten verringert, bereits die Trendumkehr an. Selbige ist Ausdruck der sich zuletzt wieder verschärfenden Situation bei den globalen Logistikketten einschließlich der Lieferkettenunterbrechungen bei Bezügen wichtiger Rohstoffe aus Russland und der Ukraine. Vorübergehend leicht unterstützend hingegen wirkt die den Export begünstigende Wechselkursentwicklung des Euro, der im Jahresabstand über zehn Prozent seines Wertes gegenüber dem US-Dollar eingebüßt hat.
In Übereinstimmung mit dem durch substanzielle Störfaktoren geprägten Gesamtbild revidieren die Unternehmen ihre Produktionserwartungen in saisonbereinigter Betrachtung grundlegend. Der Saldo dreht sich von plus 32 Punkten auf minus 2 Punkte, was die Erwartung einer stagnativen Entwicklung in der österreichischen Industrie in den kommenden Monaten unterstreicht.
Deutlich freundlicher stellen sich die Beschäftigungsaussichten dar. Zwar ist auch hier ein Rückgang des Saldos von +33 auf +22 Punkte zu verzeichnen, doch überwiegt die Einstellungsneigung aufgrund des Fachkräftemangels nach wie vor: Knapp jedes dritte Unternehmen strebt einen Ausbau seiner Humankapitalbasis an, während jedes zwölfte Unternehmen den Beschäftigtenstand nicht mehr zu halten vermag.
Mit einem Saldo von +70 Punkten markiert die sprunghafte Entwicklung der Verkaufspreiserwartungen das disruptive Ende jahrzehntelang gepflegter Preisgestaltungsusancen in der Industrie. Typischerweise wurden Kostensteigerungen durch Produktivitätssteigerungen aufgefangen, doch der exorbitante Anstieg bei den Rohstoff- und Energiekosten erzwingt eine grundlegend veränderte Anpassung der Produktkalkulation. Im Ergebnis erwarten 72 Prozent der Respondenten steigende und nur noch rund ein Viertel gleichbleibende Verkaufspreise auf Sicht der nächsten drei Monate. Der außergewöhnlich hohe Wert dieses Indikators weist darauf hin, dass der zuletzt zu beobachtende Preisauftrieb weder ein auf wenige Warenkategorien beschränktes noch ein vorübergehendes Phänomen bleiben wird.
Die Vielzahl der konjunkturellen Störfaktoren hinterlässt bereits beträchtliche Spuren in der aktuellen Ertragslage der Unternehmen. Der betreffende Saldo bildet sich abermals zurück, und zwar von +30 auf +26 Punkte. Auf Sicht des nächsten Halbjahres bringt der auf ‑24 Punkte nach zuvor +7 Punkten einbrechende Saldo der Ertragserwartungen die im Durchschnitt der Respondenten pessimistischen Geschäftsaussichten zum Ausdruck.
An der jüngsten Konjunkturumfrage der Industriellenvereinigung beteiligten sich 386 Unternehmen mit rund 283.900 Beschäftigten. Bei der Konjunkturumfrage der IV kommt folgende Methode zur Anwendung: Den Unternehmen werden drei Antwortmöglichkeiten vorgelegt: positiv, neutral und negativ. Errechnet werden die (beschäftigungsgewichteten) Prozentanteile dieser Antwortkategorien, sodann wird der konjunktursensible „Saldo“ aus den Prozentanteilen positiver und negativer Antworten unter Vernachlässigung der neutralen gebildet.
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