Multiple Herausforderungen

Der Ausbruch des Ukraine-Kriegs zieht dramatische globale Folgen nach sich und bringt auch für die OÖ. Industrie eine Zeitenwende. Welche Auswirkungen sich daraus auf die zwölf von der IV-OÖ definierten „Grand Challenges“ ergeben, wurde in einer Trendstudie zusammengefasst.

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde die zuvor bestehende Weltordnung schlagartig ins Wanken gebracht. Die Rückkehr des Krieges in Europa hat eine Phase großer Unsicherheit eingeläutet und eine humanitäre Tragödie ausgelöst. Die wirtschaftlichen Verwerfungen sind mannigfaltig; sie betreffen praktisch alle Branchen und sind weltweit spürbar. Am stärksten betroffen ist Europa, das nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 sowie der Covid-19-Pandemie der letzten Jahre derzeit den dritten asymmetrischen Schock erlebt. Die IV-OÖ ist daher der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen der Ukraine-Krieg auf die noch vor der Covid-Pandemie in einem umfangreichen, mehrjährigen Prozess definierten zwölf „Grand Challenges“ der OÖ. Industrie entfaltet, und legte eine Trendstudie vor, die auf Basis internationaler Expertenstudien und -prognosen vorrangig auf die mittel- und langfristigen Implikationen eingeht.

Chancen auf qualifizierte Zuwanderung?

Mehr als sieben Millionen Menschen – überwiegend Frauen und Kinder – sind seit Kriegsbeginn im Februar aus der Ukraine geflüchtet, rund 80.000 davon sind derzeit in Österreich registriert. Gleichzeitig ist der Fachkräftemangel in Österreich ungebrochen; er hat sich zu einem umfassenden Arbeitskräftemangel ausgewachsen und wirkt sich hemmend auf die Entwicklung der heimischen Wirtschaft aus. Das Interesse an einer Integration der ukrainischen Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt ist daher groß. Gerade die jüngeren Generationen und vor allem Frauen in der Ukraine zeichnen sich durch ein hohes Bildungsniveau aus. Zusätzlich beschleunigt der Ukraine-Krieg Russlands Brain-Drain hauptsächlich von hoch qualifizierten Fachkräften.

Kernfrage Energieversorgung

Die Invasion der Ukraine hat auch die Abhängigkeit Europas von Russland in der Energieversorgung schmerzhaft zu Tage gebracht. Russland ist der wichtigste Lieferant für Erdgas, Erdöl und Kohle der EU: Rund 45 Prozent der Erdgasimporte, 27 Prozent der Erdölimporte und 46 Prozent der Kohleimporte der Union stammten 2021 aus Russland. Im Fokus der aktuellen Debatten zur Verringerung der Energieabhängigkeit Europas von Russland steht dabei vor allem Erdgas. Die insgesamt aus Russland importierten 155 Mrd. Kubikmeter machten im Jahr 2021 rund 45 Prozent der Gasimporte der EU und fast 40 Prozent ihres gesamten Gasverbrauchs aus. Der Konflikt hat gerade die Erdgasmärkte stark unter Druck gesetzt und die Unsicherheit auf einem bereits angespannten Markt erhöht.

Foto: IV OÖ


Die Auswirkungen sind enorm: Die Preise für das in Europa gehandelte Erdgas sind auf ein bisher unerreichtes Niveau gestiegen. Mit ihnen schnellen aber aufgrund des Merit-Order-Prinzips auch die Strompreise nach oben – mit einer Vielzahl von Folgewirkungen, die beinahe täglich in den Medien verfolgt werden können. Insgesamt zeigt sich daraus, dass die umfassende Transformation des europäischen Energiesystems nie dringlicher war als jetzt, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern und verstärkt grüne Energie zu erzeugen.

Dazu kommt, dass Europa neben der Energieversorgung in hohem Maße auch von anderen Rohstoffimporten aus Russland abhängig ist. Viele davon sind von enormer Bedeutung für die ökologische und digitale Transformation, wie etwa Kobalt, Vanadium, Nickel oder Palladium. Doch auch die Ukraine ist ein wichtiger Rohstofflieferant für die europäische Industrie, etwa bei Neongas. „Insgesamt hat der Ukraine-Krieg nicht nur die Kosten für Energie und damit die industrielle Produktion massiv verteuert, sondern auch die Versorgung mit anderen kritischen Rohstoffen massiv gefährdet“, erklärt IV-OÖ-Geschäftsführer Joachim Haindl-Grutsch.

Perfekter „Inflationssturm“

Mit Lieferengpässen und steigenden Energie- und Rohstoffpreisen, Lockdowns in China und zuletzt dem Ukraine-Schock hat sich binnen kurzer Zeit ein „perfekter Inflationssturm“ zusammengebraut, der zu einem massiven Aufwärtsschock der Teuerungsraten geführt hat. Bereits im April 2022 erreichte die jährliche Inflationsrate in der EU 8,1 Prozent und im Euroraum 7,4 Prozent – ein Jahr zuvor lag sie bei 2,0 Prozent. Die Zwei-Prozent-Marke ist jener der Zielwert, den die EZB für die Inflation ansetzt – die aktuelle Inflationsrate ist mehr als viermal so hoch. Maßgeblicher Treiber des Inflationsschocks sind die zuletzt sprunghaft angestiegenen Energiekosten.

Die Zentralbanken stehen vor dem Dilemma, einerseits die Inflation eindämmen und die Geldpreisstabilität sicherstellen zu müssen, auf der anderen Seite können Erhöhungen der Leitzinsen ein Abwürgen des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Covid-Pandemie bewirken. Grundsätzlich bedeutet ein höherer Leitzins, dass es für Banken teurer ist, neues Zentralbankgeld abzurufen. Sie tun das also tendenziell weniger, das Angebot an Geld sinkt und Kreditzinsen werden teurer – auch für Unternehmen, was wiederum Investitionsvorhaben bremsen kann.

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Bereits im Mai hat der Euro gegenüber dem US-Dollar deutlich abgewertet und den bis dahin niedrigsten Stand gegenüber dem US-Dollar seit Jänner 2017 ausgewiesen. Mitte Juli wurde schließlich die Euro-Dollar-Parität erreicht. Ein im Vergleich „günstiger“ Euro verbilligt zwar grundsätzlich die europäischen Exporte, allerdings müssen Unternehmen, die Waren und Rohstoffe auf US-Dollar-Basis kaufen, höhere Kosten tragen.

Der Ukraine-Krieg stellt auch die Resilienz des internationalen Finanzsystems auf die Probe: Ein weiterer Anstieg der Inflation, die verschärfte Problematik globaler Wertschöpfungsketten sowie zusätzliche Ausgaben zur Bewältigung der Folgen des Ukraine-Kriegs erhöhen den Druck auf die Staatsausgaben, hauptsächlich in den europäischen Staaten.

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Top-10-Schlussfolgerungen für die OÖ. Industrie

Fachkräftemangel und qualifizierte Zuwanderung, MINT-Nachwuchs, Digitalisierung und neue Technologien

Das Potenzial für die Zuwanderung hoch qualifizierter MINT-Fachkräfte aus der Ukraine und aus Russland sollte durch gezielte Maßnahmen erschlossen werden, etwa durch Stipendien für Studierende, akademische Fachkräfte und Wissenschaftler, Welcome Service und eine Kooperation mit Work in Austria der Austrian Business Agency. Der digitale Wandel wird durch den Ukraine-Krieg weiter beschleunigt und zielt auf die Optimierung von Produktions- und Geschäftsprozessen sowie die Senkung von Produktionskosten durch den Einsatz digitaler Technologien ab.

Energie- und Rohstoffversorgung, Klima- und Umweltschutz, Zukunft der Mobilität und des Transports

Energiekosten werden auch künftig auf hohem Niveau bleiben, die Unabhängigkeit von russischem Gas und Öl ist mit höheren Kosten verbunden. Russland ist aber auch bei anderen kritischen Rohstoffen, die insbesondere für die Green Transition der Wirtschaft benötigt werden, einer der weltweit wichtigsten Exporteure. Auch hier müssen neue Bezugsquellen erschlossen werden, der Wettlauf um Rohstoffe wird sich verschärfen. Unternehmen, die grüne Technologien entwickeln oder Produkte damit herstellen, werden in Zukunft einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil besitzen. Der Ukraine-Krieg beeinträchtigt die Logistikbranche aufgrund der gestiegenen Transportkosten über alle Verkehrsträger hinweg.

Die Zukunft Europas, geopolitische Machtverhältnisse und freier Handel, gesellschaftliche Herausforderungen

Die EU geht Themen wie den Umbau des Energiesystems und die Dekarbonisierung der Wirtschaft infolge des Kriegs schneller und umfassender an – mit entsprechenden Auswirkungen auf Unternehmen. Experten warnen vor einer Fragmentierung der Weltwirtschaft in geopolitische Blöcke und einer damit einhergehenden Deglobalisierung. Es wird wohl zu weitreichenden Umgestaltungen im Welthandel kommen; Unternehmen werden ihre Wertschöpfungsketten restrukturieren, hin zu mehr Diversifizierung, Sicherheit und Regionalisierung. Der Inflationsschock führt zu Wohlstandsverlusten in der gesamten Volkswirtschaft. Der massive Anstieg der Lebensmittelpreise kann in Entwicklungsländern zu humanitären Katastrofen, politischen Unruhen und infolgedessen zu neuen Flüchtlingswellen nach Europa führen.

Good Governance, Cyber Security, Internationale Finanzierungs- und Kapitalmärkte

Der Euro hat gegenüber dem US-Dollar erheblich abgewertet. Das vergünstigt zwar Exporte aus dem Euroraum, macht Importe aber teurer - vor allem Energieimporte, die in der Regel in US-Dollar denominiert sind. Das geringere Wirtschaftswachstum wirkt sich auf Konsum- und Investitionsneigung der Privatbevölkerung sowie der Wirtschaft aus, weshalb sich die bislang starke Post-Covid-Dynamik in Österreich abschwächen wird.